Fallbeschreibung: Epilepsie eines alten Hundes

 

2025-07-23

Mickl und ich 2024-11-18

Mein Hund Mickl, hier 2024-11-18, geboren Anfang Dezember 2009, ein Jack-Russell-Mischling und Teil eines Achter-Rudels aus Hunden verschiedenen Alters mit Geburtsjahrgängen zwischen 2008 und 2018, hat im Frühsommer 2020 begonnen, eine idiopathische Epilepsie zu entwickeln – organische Ursachen hierfür sind nicht bekannt oder erkennbar. Am 30. Mai hatte er einen ersten leichten Anfall, während er auf dem Sofa lag und schlief. Ich habe das Rudern mit den Läufen zunächst mit Traumerleben, aber nicht mit Epilepsie in Verbindung gebracht.

 Als er dann aber begann, ab August im Abstand von ca. zwei Monaten Cluster selbstlimitierender tonisch-klonischer Anfälle von je etwa 3 Minute Dauer zu bekommen mit Bewusstseinsverlust, Urin- und teilweise Kotabsatz, vereinzelt auch herzzerreißendem Heulen, war die Diagnose eindeutig. Im weiteren Verlauf verkürzte sich das anfallsfreie Intervall z.T. bis auf drei Wochen, in anderen Fällen betrug es aber auch 13 Wochen. Eine klare Systematik war nicht zu  erkennen, auch nicht, was den Umfang der Cluster anbetraf, der im schlimmsten Fall Anfang Februar 2022 16 einzelne Anfälle innerhalb von 48 Stunden umfasste. Einzelnen Anfällen ging dabei eine Aura voraus: Der Hund stand aus dem Ruhezustand, aus dem die allermeisten Anfälle erfolgten, auf, wirkte so, als wisse er nicht, was mit ihm geschieht, fiel dann um und in den Anfall. Das Video zeigt den Anfall von 2020-12-16.

Der Behandlungsversuch, die Situation mit Hilfe von Benzodiazepinen, z.B. auch Diazepam-Rektalampullen, Barbituraten (Phenobarbital) oder Pexion, schlug fehl, da diese bei ihm nicht ansprachen, weder in der Lage waren, Anfälle zu verhindern oder Cluster zu unterbrechen, dafür aber erhebliche unerwünschte Wirkungen zeitigten. Erst die Wahl des Glutamat-Antagonisten Levetiracetam, das damals noch nicht sehr weit verbreitet war, in einer Dosierung von 2x täglich 25 mg/kg KG Anfang 2023 brachte den gewünschten Erfolg und eine Freiheit von tonisch-klonischen Anfällen (beim Menschen auch als "Grand-mal" bezeichnet) bis ins Frühjahr 2025.

Gegen Ende 2023 verlor Mickl von seinen 11.4 kg etwa 2 kg an Gewicht, bekam Anfang Januar Aszites, verbunden mit einer starken Proteinurie und dem Verdacht auf ein nephrotisches Syndrom. In den folgenden Wochen erholte sich der Hund unter der Gabe von Diuretika und Antibiotika. Allerdings ist Levetiracetam nierenschädlich[1] und die Proteinurie beweisend für einen bereits vorhandenen erheblichen organischen Nierenschaden.

Mickl ist der sensibelste meiner Hunde. Als ich ihn 2016 kennen lernte, schaute er Menschen nicht direkt ins Auge, war scheu und ließ sich nicht anfassen. Das hat sich inzwischen drastisch geändert: Er kann einem fast hypnotisierend in die Augen sehen! Die Lektüre des Artikels von Frau Prof. Tipold von der Tierärztlichen Hochschule Hannover[2] gab mir den Hinweis darauf, dass Stress ein Auslöser für Epilepsie sein kann. Und bei Mickl trat der erste Anfall drei Wochen nach dem Tod seines „Frauchens“ Andrea, meiner zweiten Ehefrau, auf, bei der er geboren und aufgewachsen war und unter deren Ableben er sehr gelitten hat, und dann auch mit mir, denn er hat gespürt, wie sehr ich gelitten habe. Erst Ende 2018 kam er ja in unser gemeinsames Haus. So entstand die Idee zu versuchen, das nierenschädliche Levetiracetam zu reduzieren und im besten Fall ganz darauf zu verzichten zu Gunsten homöopathischer und pflanzlicher Alternativen. Ich bin ein überzeugter Verfechter homöopathischer Behandlungen und habe ihre Wirksamkeit oft erfahren. Bei dieser Erkrankung geht aber der Weg nicht an den allopathischen Anti-Epileptika (AED) vorbei.

Frauchen mit Rudel 2018-07-29

Leider bekam Mickl (im Bild rechts hinten mit Frauchen und Rudel 2018-07-29) fünf Wochen nach dem kompletten Absetzen wieder einen tonisch-klonischen Anfall und weitere fünf Wochen später einen Cluster mit fünf Anfällen, aus denen sich dann erstmals bei ihm ein nicht-konvulsiver Status epilepticus (NCSE) ausbildete, weswegen wieder auf das Levetiiracetam zurückgegriffen werden musste. Um den NCSE zu brechen erhält er bei 10 kg KG täglich 2x 125 mg Levetiracetam, 2x 25 mg Topiramat, beides Gegenspieler des Glutamats, des exzitatorischen Neurotransmitters, 2x 100 mg Gabapentin, das den inhibitorische Neurotransmitter GABA ergänzt, und für einige Tage 0.5-1 mg Lorazepam. Die Eigenschaften und Dosierungen sind auf der Seite der Deutschen Epilepsievereinigung, Landesverband NRW gem.e.V. gut nachzulesen[3]. Die dortigen Informationen decken sich mit den Fachinformationen der Herstellerfirmen bei der Schweizerische Zulassungs- und Aufsichtsbehörde für Arzneimittel und Medizinprodukte[4], ebenso mit denen auf der CliniPharm-Seite der Universität Zürich[5]. CBD-Öl soll helfen, Aktivität zu dämpfen.

Ein konvulsiver Status epilepticus (CSE) ist eindeutig ein klinischer Notfall und muss umgehend maximal medikamentös versorgt werden, in der Humanmedizin bis hin zur Vollnarkose. Die eindeutige Diagnostik eines Status epilepticus stellt dabei ein Problem dar, da auf der einen Seite ein epileptischer Anfall mit Bewusstseinsverlust ab 30 Minuten Dauer als Status epilepticus definiert wird, dies aber im klinischen Alltag unpraktikabel ist, und daher hier 5 Minuten als Grenzwert gelten[6]. Die hier zitierte Leitlinie stammt zwar aus der Humanmedizin, aber die Semiologie (Symptomatik), die medikamentösen Wirkstoffe und die Behandlungsstrategien in der Veterinärmedizin laufen weitgehend parallel dazu. Inzwischen gibt es eine Vereinbarung (Konsenserklärung) unter Beteiligung der Tierärztlichen Hochschule Hannover mit internationalen Partnern zum Management des Status epilepticus und von Cluster-Anfällen bei Hunden und Katzen, die ebenfalls starke Parallelen zur Humanmedizin aufweist[7]. Das wird auch in einer Dissertation an der Münchner Universität (LMU) mit dem Titel „Status epilepticus und epileptische Anfälle beim Hund“ von Romina Zimmermann aus dem Jahr 2009 deutlich, die eine weitere sehr gute Informationsquelle ist[8], ebenso der Beitrag aus dem Thieme-Verlag von Dr. med. Frank Kerling vom Epilepsiezentrum in Erlangen[9].

Wenn man strenge Kriterien anlegt, so sind die beiden maßgeblichen semiologischen Kriterien: An- und Abwesenheit von prominenten motorischen Störungen sowie das Vorhandensein und ggf. Ausmaß einer qualitativen und quantitativen Bewusstseinsstörung, dann war und ist Mickls Zustand kein ausgeprägter Status epilepticus, sondern eine Folge fortgesetzter epileptischer Aktivität bei weitgehend erhaltenem Bewusstsein.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in einem epileptischen Anfall die Homöostase der beiden Neurotransmitter Glutamat (exzitatorisch) und GABA (inhibitorisch) aus dem Tritt gerät. Als Zusatztherapeutikum zu einem AED kommt noch das Fycompa mit 0.05-0.2 mg/kg KG in Frage. Auch den Benzodiazepinen, speziell dem Lorazepam, kommt eine wichtige Rolle zu, denn sie verstärken die Wirkung von GABA, das jedoch auch in entsprechender Menge vorhanden sein muss. Daher bekommt Mickl zusätzlich Gabapentin, um ein mögliches Defizit auszugleichen. Bei länger anhaltender epileptischer Aktivität (Überschießen des Glutamats) können aufgrund der starken Exzitotoxizität neuronale Schäden auftreten: Die Reizüberflutung führt zu sehr hohen Kalziumspiegeln im synaptischen Spalt, die wiederum durch die Aktivierung enzymatischer Prozesse zum Absterben von Neuronen führen können. Da das Gehirn plastisch ist, ist es in der Lage, solche Schäden zu kompensieren, was allerdings eine gewisse Zeit benötigt. (Man denke da nur an den Schlaganfall beim Menschen.) Und so werde ich auch bei meinem Mickl Geduld haben müssen, bis sich die Folgen des SE zurückgebildet haben, z.B. die bis zu einem gewissen Grad vorhandene Desorientierung, der Verlust von Fähigkeiten, die kurzzeitigen muskulären Zuckungen, bei denen er immer wieder hin- oder umfällt, und die daher wie eine Muskelschwäche erscheinen, die tatsächlich aber einen kurzzeitigen, krampfartigen Verlust der Koordination der Läufe darstellen.

Aktualisierungen: 2025-07-24. Zehn Tage nach dem Clusteranfall zeitigt die Therapie Erfolge: Die Desorientierung hat stark nachgelassen, und die krampfartigen Zuckungen sind verschwunden, so dass auch die Therapie angepasst werden konnte. Lorazepam wurde abgesetzt und das Levetiracetam auf 2x 62.5 mg täglich reduziert. Mickl findet langsam in seine gewohnten Verhaltensmuster zurück. Ziel ist es, auf AEDs zu Gunsten von Gabapentin ganz verzichten zu können.
 
2025-07-29. Nachdem Mickl nahezu keine Verhaltensauffälligkeiten mehr zeigt, wurde die Dosierung von Levetiracetam weiter auf 2x 35 mg täglich reduziert.
 
2025-08-05. Levetiracetam wurde jetzt abgesetzt. Als einzigs AED ist Topiramat mit 2x 25 mg tgl. geblieben.
 
2025-08-07. Er bekommt jetzt zusätzlich von den Kalium-Magesium-Sticks (dm) und Natriumbikarbonat-Pulver, um das Gleichgewicht im Serum zu erhalten und eine metabolische Azidose, die sich als Nebenwirkung des Topiramat entwickeln und auch im Zusammenhang mit Mickls chronischer Nierenerkrankung (CKD) auftreten kann und diese dann verschlimmert, zu verhindern oder zu bekämpfen.
 
2025-08-18. Nach dem Absetzen des Levetiracetam hat Mickl heute leider wieder zwei tonisch-klonische Anfälle bekommen, die akut mit Topiramat, Fycompa (4 mg) und 2x jeweils 1 mg Lorazepam, das ja an den Synapsen die inhibitorische Wirkung von GABA unterstützt, und einer deutlich erhöhten Dosis von Gabapentin (3x 20 mg/kg) bekämpft wurden, auch um die Ausbildung eine Status epilepticus zu verhindern. Es ist ein wirklich schwieriger Prozess des Herantastens an eine wirksame Dosierung mit möglichst wenig schädlichen Nebenwirkungen!
 
2025-08-19. Da er gewisse Anzeichen einer fortdauernden epileptischen Aktivität zeigt, hat Mickl heute außer 2x 25 mg Topiramat und, über den Tag verteilt, 40 mg/kg KG Gabapentin, das ja leider nur eine sehr kurze Plasmahalbwertszeit (2.2 h) hat, noch eine Gabe von 0.5 mg Midazolam erhalten. Weitere Anfälle sind nicht wieder aufgetreten.
 
2025-08-21. Wiederkehrende Zuckungen haben Anlass gegeben für eine nochmalige Gabe von 0.5 mg Midazolam.

Dr. rer.nat. Jürgen Wirth

Für Kommentare und Fragen e-mail an:
tiere@wirth-bonn.de

 



[1] DocCheck-Flexikon, Stichwort: Levetiracetam

[2] Andrea Tipold et al., Epilepsie bei Hund und Katze. Kleintierpraxis 60, S. 198-214 (2015) (DOI 10.2377/0023-2076-60-198)

[3] Anfallssuppressiva

[4] Swissmedic, AIPS-Einzelabfrage

[5] Universität Zürich: CliniPharm Wirkstoffe - Epilepsie & Antikonvulsiva

[6] AWMF-Leitlinie: Status epilepticus im Erwachsenenalter (2020)

[7] Marios Charalambous, ACVIM Consensus Statement on the management of status epilepticus and cluster seizures in dogs and cats (2023-11-03)

[8] Dissertation: Status epilepticus und epileptische Anfälle beim Hund

[9] Notfall: Status epilepticus (Thieme)

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